Natürlich

Home Lyrik

Natürlich (Vita)  ●  Die Liebe (brevis est)  ●  Kunstwerk (Ars)  ●  Die Gesellschaft (longa)


 

Vorfrühling

Der Schnee ist weggetaut schon lang,
die Welt naßschmutziggrün.
Hoch oben vor dem Himmelsblaß
acht Vögel nordwärts ziehn.
Vom kahlen Baumesscherenschnitt
her zwitschert zarter Klang.
Er läßt die ersten Weiden blühn
und ruft noch scheues Gras.
Befreite Wasserflächen glühn,
Kaninchen spieln zu dritt.
Natur wacht auf zum Lebenssang,
ein Wandrer summt leis mit.

(16.2.1987)
 



Was wäre ich

Ich wäre Schilf und wäre grün
und stände dort am Ufer
und wäre noch und wäre mehr
ich stände rings am See

Ich wüchse tief und wüchse dicht
ich wäre eine Aue
wo Flüsse münden in den See
und alles wäre feucht

Ich stände halb auf festem Grund
und tauchte halb schon unter
und badete und sonnte mich
ich atmete im Naß

Ich saugte Wasser in mich ein
und gäb's mit Blättern wieder
und nähm es und ich wüßte nicht
ob Wasser enden kann

Ich sähe scharf und strähning aus
von grünem Strich gezogen
die Rohre schwankten mit dem Wind
ich fühlte mich so leicht

Ich wäre Schilf und raschelte
ansonsten würd ich schweigen
und lauschte Frosch und Vogellied
Es wäre ringsum ruhig

(12.-13.8.1994)
 



Herbsttanz

Die Wolken ziehn zum Tanze.
Der Sonnenglanz verglüht.
Der Wind ist eine Pflanze,
die erst im Herbst erblüht.

Am Himmel graue Schäume.
Der Wetterhahn zeigt West.
Der Umriß kahler Bäume
schwingt Krähen im Geäst.

Der Wind geht über Dächer,
er dreht sich im Gebälk.
Er treibt mit feuchtem Fächer
die letzten Blätter welk.

Der West steht in den Hainen,
wo Kühle regt und rauscht.
Die Zeit riß von den Leinen,
sie wird nun ausgetauscht.

Die Böen Gischten sprühen
aus Pfützen vor sich her.
Die weiten Schatten frühen,
der Wind fegt alles leer. 

Die Wolken ziehen Streifen
vor fahlem Abendlicht,
und weiter Wehen schweifen.
Die Türen stehen dicht.

Die Winde toben, springen.
Es dukt die Nacht sich müd,
sie lauscht, was Stürme singen:
den Traum von licht und Süd.
 
(„frühen“ = Da wo die Schatten wehen,
ist früher Nacht als ringsum.)

(10.-28.11.1989)
 



Im Erlenbruch

Kalte Tage, rauhe Nächte,
aus den Sümpfen keinen Ton,
filzvergilbtes Grasgeflechte,
darauf weiße Hauche schon.

Tiefverwoben braune Blätter,
außer zwei und drei am Zweig
und dem Wasserspiegelvetter,
Wellenringe, schwimm und schweig.

Hinter Schleiern starke Äste,
starre Schilfe farbenkarg,
Hörer nur gehauchter Gäste,
wie in Nächten, so am Tag.

(10.12.1993)
 



Vermißt

wann
zuerst bemerkt
kann ich nicht sagen
ich habe es halt
zufällig

fiel auch nicht auf
einer unter so vielen
ich habe sie nie
gezählt

viele viele
sind es
so viele
wer zählt sie

wer kennt jeden einzelnen
daß er sagen kann
danach
oh

meine Güte soll ich
denn auf jeden achten
es gibt doch
Unmengen

jetzt ist es eben
einer weniger
fällt ja eh
kaum auf

das merkt man doch
gar nicht
Ein Baum
neben vielen

der verschwindet
in der Menge
der wird nicht
vermißt

(13.11.1989)
 



Alter Hase

Ein Hase, der mümmelt
im Feld bei dem Wald
die zarten Salate
– fanfarenhaft schallt

ein Ton, dann ein zweiter,
es blitzt ein Geweih,
bedrohen sich Streiter,
(auch dies' Jahr dabei),

mit Schnauben, mit Scharren,
mit Augenlichtglühn,
mit Blitzstart und Krachen
und Sinnevergehn;

die Sonne geht unter
im Wald hinterm Feld,
es hoppelt der Hase
noch wie ihm gefällt.

(3.8.1995)
 



Früchtchen

Äpfel, Birnen, Kirschen, Pflaumen,
rotgelbgrünliche und blaue,
lutschbeißsauge ich und kaue,
flutsch, vom Augenschmaus zum Gaumen.

Wie ich stengel, wie ich schäle,
wie ich blätter und entkerne,
jedes Hindernis entferne,
dann zerfleische, raube, stehle!

Wären sie nicht rasch verkommen,
hölzernfade pilzbraunschwarze
gärendmatschig Glitschwurmharze,
hätt' ich sie nicht eingenommen?

(3.8.1995)
 

 


Home Nach oben Weiter

© Martin Teller - Oldenburg